KI trifft Klassik: eine musikalische Zusammenarbeit
Neulich fand ein ganz besonderer Abend für mich und meinen Co-Komponisten Adrian Sieber im Prinzregententheater in München statt: In einer Welturaufführung präsentierten die Münchner Symphoniker das Auftragswerk “The Twin Paradox: A Symphonic Discourse”, das wir mithilfe von Künstlicher Intelligenz, genauer gesagt Gemini, komponiert haben. Als Cellist bin ich Teil der Orchesterfamilie der Münchner Symphoniker und spiele normalerweise selbst bei den Proben und Konzerten mit. Doch diesmal habe ich mit den Kolleginnen und Kollegen vom Zuschauerraum aus mitgefiebert, während sie unsere Komposition zum Leben erweckt haben.
Die Entstehung von "The Twin Paradox"
In der Welt der herkömmlichen Musik-KI-Modelle, die derzeit im Internet kursieren, handelt es sich häufig um Systeme, die auf Knopfdruck ein fertiges Stück liefern – beispielsweise ein Geburtstagslied für ein Familienmitglied. Das ist zwar äußerst unterhaltsam, jedoch fehlt mir der künstlerische Reiz und die Individualität.
Adrian und ich wollten einen interaktiveren Ansatz, um die Möglichkeiten von KI in der Musik zu testen, und entschieden uns, mit einem Sprachmodell im Dialog zu arbeiten. Obwohl ein solches Modell nicht eigenständig komponieren kann, bietet es die Möglichkeit, in einem kreativen Austausch gemeinsam neue Ideen zu entwickeln.
Als Artist in Residence von Google Arts & Culture war eine meiner ersten Fragen an Gemini, dem KI-Assistenten von Google, welchen Namen unser gemeinsames Werk tragen soll. Der Vorschlag „Gemini Paradox“ brachte mich auf “The Twin Paradox” – in meinen Augen ein spannendes Thema für unser Stück. Das Zwillingsparadoxon ist ein Gedankenexperiment in der speziellen Relativitätstheorie. Es beschreibt, wie zwei Zwillinge unterschiedlich altern, wenn einer von ihnen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch das All reist, während der andere auf der Erde bleibt.
Also habe ich Gemini gefragt, wie wir dieses Konzept musikalisch umsetzen könnten. Die Antworten, die ich erhielt, waren sowohl unerwartet als auch faszinierend. Ein zentrales Element war die Idee, zwei unterschiedliche Tempi gleichzeitig laufen zu lassen, sodass sich eines langsam vom anderen wegbewegt. Dadurch konnten wir die Symbolik des Gedankenexperiments hörbar machen. Zudem sollten verschiedene Instrumente gemeinsam spielen und dann einige von ihnen langsam wegdriften, um den Eindruck zu vermitteln, dass sich die Zeit verändert und zwei unterschiedliche Zeitempfindungen entstehen.
Die Münchner Symphoniker haben die Entstehungsgeschichte auch virtuell auf Google Arts & Culture festgehalten
Der kreative Prozess
Ich fand im Zusammenspiel mit Gemini immer besser heraus, wie ich meine Fragen bzw. die so genannten Prompts so formulieren kann, damit ich spannende Ergebnisse erhalte. Ich entschied mich, eine metaphorische und bildhafte Sprache zu verwenden, und Gemini gelang es, spannende, sehr kreative Querverbindungen zu schaffen. Im weiteren Verlauf fragten wir Gemini nach einer Dramaturgie für das Stück, spezifischen Melodien, Rhythmen und Harmonien sowie deren Instrumentierung – den grundlegenden Bausteinen des Kompositionsprozesses.
Und schließlich nutzten wir auch die multimodalen Fähigkeit von Gemini. Ich führte Interviews mit verschiedenen Orchestermitgliedern zum Beispiel über deren Lieblingsmusikstile und ließ diese Videos von der KI analysieren. Gemini nutzte die Aussagen und gab Inspiration für Melodien, die speziell für bestimmte Musiker*innen geschrieben wurden. Der Höhepunkt des Stücks, der unserem Schlagzeuger Alex gewidmet ist, spiegelt dies besonders wider: Alex, der früher Metal-Schlagzeuger war, teilte uns seine Lieblingsgrooves mit, und daraufhin schlug Gemini einen passenden Rhythmus für die Orchesterschlagzeuger vor. Diese Umsetzung war wirklich beeindruckend und brachte eine persönliche Note in die Komposition ein.
Zum Leben erweckt und die Zukunft mit KI
Was bedeutet jetzt die Erfahrung mit KI im Hinblick auf die Musik in Zukunft? Für mich gibt es vor allem eine Erkenntnis: Auch wenn viele dachten oder immer noch denken, dass KI die Rolle des Menschen im Kreativbereich obsolet macht, zeigt die Realität, dass künstlerische Prozesse komplexer sind und viel Arbeit erfordern - sie brauchen den Menschen. Und der kann KI als Werkzeug für Co-Kreation einsetzen, während er selbst immer noch die entscheidende Rolle übernimmt. Der Erfolg gibt uns recht, dass Menschen im Zusammenspiel mit KI Grandioses hervorbringen können: Am Abend der Uraufführung von “The Twin Paradox” freute mich die begeisterte Reaktion des Publikums. Gerade in den stillen Momenten des Stücks war die Spannung im Saal spürbar – man konnte die Aufmerksamkeit des Publikums förmlich hören.