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Meinung

Für eine Kultur der Technologischen Zugewandtheit

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Ich bin von ganzem Herzen Transatlantikerin. Bevor ich zu Google kam, habe ich oftmals mit meinen amerikanischen Freunden über ihren Blick auf die Digitalisierungsdebatten in Deutschland gesprochen. Hierzulande ist oft die Rede von den Defiziten bei der Digitalisierung, von technischen Probleme in Notlagen wie der Corona-Pandemie oder, noch vor einigen Monaten, der Flutkatastrophe. Auf dem “vorletzten Platz” Europas verortete kürzlich eine Untersuchung die Bundesrepublik in puncto Digitalisierung. 1 Jetzt hat Deutschland eine neue Regierung. Sie hat sich gerade auf diesem Gebiet viel vorgenommen.

Der Blick aus Amerika auf Deutschland ist optimistisch: Meine amerikanischen Freunde glauben, Deutschland hat das Potential und den Willen, auch in diesem Jahrhundert zu den technologisch stärksten Volkswirtschaften zu gehören. Inzwischen hat Deutschland sogar das, wovon in vielen industriepolitischen Reden zu hören war, – mal hieß es “deutsches Google”, mal “deutsches Facebook”. Nun ist es mit BioNTech ein global bewundertes Unternehmen zur Erforschung von Medikamenten auf mRNA-Basis geworden! Und auch das Vertrauen der Deutschen in Technik ist zuletzt gestiegen: Das zeigte die jüngste Umfrage der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) zusammen mit der gemeinnützigen Körber-Stiftung.2

Das klingt nach einem Land der Möglichkeiten! Und großes Potential ist wichtig, denn Deutschland hat große Aufgaben vor sich – drei davon möchte ich herausgreifen: Den Klimaschutz, die wirtschaftliche Stabilität und den digitalen Zusammenhalt.

Grafik.

Der Klimawandel ruft sich inzwischen im Wochentakt ins Gedächtnis, durch Prognosen, Brände, Fluten. Die deutsche Wirtschaft ist, so sieht es derzeit der Sachverständigenrat, robust – und dennoch sprechen wir hier in Deutschland häufiger von der Angst, dass die hiesigen Unternehmen von vergangenen Erfolgen zehren würden. Das Land fühlt sich zudem unterdigitalisiert. Zurecht: Der Spalt zwischen der Avantgarde und den Nachzüglern wächst. Mangelnde Medienkompetenz auch an Schulen droht den Zusammenhalt zu erodieren.

Stapelt man diese Aufgaben für die neue Bundesregierung vor sich auf den gedanklichen Tisch, scheinen sie überwältigend. Das Motto der Ampel klingt jedoch vielversprechend: Mehr Fortschritt wagen”.

Die Lösung dieser drei Großaufgaben Klimaschutz, wirtschaftliche Stabilität und digitaler Zusammenhalt lässt sich auf ein verbindendes, kulturelles Element zurückführen, davon bin ich überzeugt: Dieses Element ist die technologische Zugewandtheit. Dabei geht es nicht um mehr Glasfaser im Boden und 5G an jeder Milchkanne, so elementar und dringlich das auch ist. Es geht auch nicht darum, Probleme auf technische Lösbarkeit zu reduzieren und in Fachzirkeln wegzuverwalten - ganz im Gegenteil. Gemeint ist eine Art der Problembewältigung. Sie betrifft alle Menschen in Deutschland, nicht nur die politischen Entscheider. In Amerika würde man von Mindset” sprechen.

Eine technologisch zugewandte Kultur ist nicht alleiniger, aber zwingend notwendiger Bestandteil der Antwort auf den Klimawandel: Je effizienter und klüger wir mit der Umwelt umgehen, desto weniger belasten Pflichten der Wiederherstellung kommende Generationen. Das Ziel einer emissionsfreien Kreislaufwirtschaft erreicht Deutschland umso schneller, je besser es Technologie integriert, die Nachhaltigkeit fördert. Potsdam will etwa auf einer urbanen Datenplattform ein Funksystem aufsetzen, mit dem die Bürger Energieverbrauch und Emissionen auslesen können.3 Genau das ist technologische Zugewandtheit. Und genau das braucht es, damit Deutschland auch im Bereich Klimaschutz mehr Fortschritt wagt”.

Die Aussichten für Innovatoren sind mit Blick auf die neue Bundesregierung gut: Die Koalitionäre wollen nachhaltige Innovationskraft befördern”. Rechenzentren in Deutschland will die Ampel auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz ausrichten”. Von 2027 an sollen neue Rechenzentren klimaneutral arbeiten. Das ist der richtige Weg, um Digitalisierung und Klimaschutz in Einklang zu bringen! Googles eigene Ziele sind - wenn wir die Gesamtsituation betrachten – notwendigerweise ambitioniert: bis 2030 wollen wir das erste Unternehmen sein, dass seinen gesamten Stromverbrauch rund um die Uhr durch CO2-freien Strom bezieht. Wie genau wir das erreichen werden, wissen wir selbst noch nicht, doch mit Innovation und technologischer Zugewandtheit wird uns das gelingen, da bin ich sicher.

Institutionen und Menschen können mit Hilfe technischer Lösungen Probleme sichtbarer, granularer machen. Aus einem diffusen, wenig greifbaren wir verbrauchen zu viel Strom” wird so eine konkrete Feststellung: Unsere Laternen leuchten, obwohl dort niemand ist”. Aus einer Klimapolitik der Experten wird eine Angelegenheit für jeden Einzelnen. Was manche jetzt noch als Gängelung empfinden, kann so zu einem Werkzeug für freie Selbstbestimmung werden.

Datenverfügbarkeit und Transparenz können das Vertrauen in staatliche Maßnahmen stärken – was wir derzeit bei der Pandemiebekämpfung erleben, gilt genauso beim Klimaschutz. Es geht in beiden Fällen um die Nachvollziehbarkeit staatlicher Entscheidungen. Wenn Emissionswerte durch Autos verursacht sind, können Fahrverbote gut begründet werden. Dies muss aber transparent und nachvollziehbar festgestellt werden. Diese Vision von Transparenz verfolgen wir zum Beispiel im Projekt „Climate Trace”: Mit 50 Partnern und 300 Satelliten zeichnen wir nach, wie und wodurch der Mensch tatsächlich Spuren im Klima hinterlässt.

Technologische Zugewandtheit bedeutet auch, dass Daten der öffentlichen Hand – die also mit Steuergeldern erhoben wurden – nicht in Silos verwaltet, sondern geteilt werden. Das gilt etwa für Umweltdaten, aber auch Informationen über Infrastruktur und Verkehr: Eine Kultur des Datenteilens in diesem Sektor führt zu besseren Radwegen, kluger Ampelschaltung und einem besseren Nahverkehr. Das lässt sich weiterdenken, auf Landesebene, die EU – oder sogar global. Das durch Technik vermittelte Wissen erweitert damit auch die Freiheitsgrade des Einzelnen und hilft dem Klima.

Bild von einem Laptop und einem jungen Mann von hinten.

Weil Datenverfügbarkeit auch für den Klimaschutz so wichtig ist, muss die deutsche Verwaltung auf jeder Hierachieebene digitale Kompetenz –Datenkompetenz – aufbauen. Die Idee des neuen, im Verkehrsressort integrierten Digitalministeriums darf nicht dazu führen, dass die anderen Ressorts ihre Kompetenzen vernachlässigen, sich abwenden. Eine schlagkräftige IT-Abteilung ersetzt nicht die Datenkompetenz im Vorstand. Das Digitale ist kein Spezialgebiet, sondern die Sprache der Gegenwart. Um sie zu sprechen, braucht es technologische Zugewandtheit, wo auch immer gerade Entscheidungen getroffen werden. Die Ausführlichkeit, mit der sich der Koalitionsvertrag der Datennutzung und dem Datenrecht widmet, lese ich als Zeichen so einer Zugewandtheit.

Technologische Zugewandtheit kann die Transformation vor allem kleiner und mittelgroßer Unternehmen beschleunigen und damit einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Stabilität leisten. Die Pandemie hat es gezeigt: Die schiere Notwendigkeit hat besonders im Einzelhandel einen Digitalisierungsschub ausgelöst und tut dies weiterhin. Unternehmen, die schon über ein starkes digitales Standbein verfügen, weil sie technologische Zugewandtheit bereits gelebt haben, sind erwiesenermaßen besser durch die schwere Zeit gekommen. In der EU konnten digital fortschrittliche Unternehmen etwa 60 Prozent höhere Umsätze verzeichnen und dreimal so viele Leute einstellen, das geht aus einer von uns beauftragten Studie des Connected Commerce Council (3C) hervor. Die Pandemie war so gesehen ein Test auf Zukunftsfestigkeit. Gerade bei Mittelständlern kann der Staat bei dieser Aufgabe helfen. Dazu gehört eine konsequente digitale Bildung an Schulen und Weiterbildungsangebote für Erwachsene. Sie zahlt sich in echten Freiheitsgraden für arbeitende Menschen aus - und in Form von Resilienz gegenüber kommenden Krisen.

Frau mit Laptop in einem Büro.

Technologische Zugewandtheit dreht sich also nicht um Chips, Algorithmen und Daten, sondern den Umgang von Menschen untereinander. Es ist wichtig, MINT-Studiengänge und interdisziplinäre Forschungsbiografien zu fördern. Die beeindruckende Biografie der BioNTech-Gründer Dr. Özlem Türeci und Prof. Dr. Uğur Şahin hat diesen Zusammenhang für alle sichtbar gemacht. Diversität bedeutet auch, auf die junge Generation und ihre Bedürfnisse zu hören, wie zum Beispiel beim Thema flexiblere Arbeitsmodelle.

Die Aussichten für innovationsstarke Start-ups lassen sich noch deutlich verbessern. Das schnelle Gründen wird zunehmend leichter – doch noch immer scheuen in Deutschland überdurchschnittlich viele Menschen den Schritt in die Selbständigkeit. Das hängt auch mit dem verfügbaren Risikokapital zusammen. Gemessen an der Wirtschaftskraft sind die Risikokapitalmärkte anderer Länder wie Großbritannien, Frankreich um ein Vielfaches größer. Ein Ausdruck technologischer Zugewandtheit könnte eine leichtere Beteiligung der Belegschaft sein oder leichtere Investitionen für Pensionsfonds. Start-ups würden dadurch noch mehr zum Ausdruck nationaler Innovationskraft.

Dabei darf nicht in Vergessenheit geraten, dass innovationsstarke Teams auch den Kauf durch ein etabliertes Technologienunternehmen als möglichen und durchaus reizvollen Weg anerkennen. Das sollte bei einem Blick auf so genannte killer acquisitions” wie es aktuell im Digital Markets Act der Europäischen Kommission abgestimmt wird, nicht unter den Tisch fallen.

Zugewandtheit bedeutet dabei nicht naive Technologiegläubigkeit. Ja, die Digitalisierung kann unserer Gesellschaft auch negativ zusetzen. Ein Beispiel: In der Corona-Pandemie haben Verschwörungsmythen neuen Zulauf erhalten, nicht ausschließlich, aber auch verstärkt durch digitale Vernetzungsmöglichkeiten. Allgemein gilt: Wenn vor allem jene privat, beruflich und gesellschaftlich von Technologie profitieren, die sich ohnehin begeistert auf jede Neuerung stürzen, schafft das Distanz zu allen, denen das nicht gelingt – ob wegen unzureichender Bildungsangebote, der Furcht vor Überwachung, der Sorge um die Sicherheit oder schlicht wegen mangelnder Infrastruktur. Die im Koalitionsvertrag angesprochene Idee einer Bundeszentrale für Digitale Bildung halte ich daher für klug. Die Digitalisierung darf nicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. Der digitale Raum muss deshalb für jeden Menschen, jede Behörde und jedes Unternehmen erreichbar und navigierbar sein.

Ohne Vertrauen in Technologie kann es keine technologische Zugewandtheit geben. Um dieses Vertrauen kann eine Gesellschaft werben. Sie kann Regeln verbessern, um Kreative und Journalisten an den den Früchten der digitalen Märkte zu beteiligen. Sie kann Verschlüsselungstechnologien und open source Projekte zum Schutz von Daten und Privatsphäre fördern. Je stärker sich Menschen digital verbinden, desto mehr Schutz brauchen sie. Dass die neuen Regierungsparteien sich in ihrem Koalitionsvertrag einer hohen IT-Sicherheit und einer durchgehenden Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verschrieben haben, ist daher ein Beitrag für mehr technologische Zugewandtheit. Vor allem aber sind EU-weit gültige und kohärente Datenverarbeitungsregeln ein ebenso wichtiger Baustein, um das Vertrauen in digitale Technologie weiter zu stärken.

Junger Vater mit Kleinkind.

Für Google bedeutet technologische Zugewandtheit neben Datenschutz und Datensicherheit auch stetes Engagement gegen Desinformation und Hassrede. Deshalb lesen wir die Pläne der Europäischen Union für ein neues Grundgesetz für das Internet”, das Digitale Dienste Gesetz (Digital Services Act), als ein Ausdruck digitaler Zugewandtheit. Dieses Mammutprojekt der EU kann Vertrauen schaffen und negativen Aspekten der Digitalisierung entgegenwirken. Es zielt ab auf eine Balance der Grundrechte, etwa der Meinungs- und Informationsfreiheit, des Privatlebens und der unternehmerischen Freiheit, es soll vor Diskriminierung schützen und Nutzerrechte gegenüber Plattformen stärken. Wenn es klug formuliert ist, erleichtert es den Menschen, sich der Technologie zuzuwenden.

Auch das Staatsvertrauen hängt von gelungener Digitalisierung ab. Selbst weniger digital affine Bürger wurmt es, wenn sie aufs Amt laufen müssen, obwohl sie sonst alles mit dem Smartphone erledigen können. Zurecht warnt etwa der Deutsche Beamtenbund seit Jahren, dass von der digitalen Handlungsfähigkeit auch das Vertrauen in den Rechtsstaat abhängt. Auch hier hat die Pandemie die bestehenden Defizite unterstrichen. Eine digitalere Verwaltung ist ein Baustein für den Zusammenhalt. Deshalb bin ich froh, dass die Ampelkoalition das Problem im Koalitionsvertrag deutlich angesprochen hat.

Eine Kultur technologischer Zugewandtheit kann viele große Aufgaben unserer Gesellschaft lösen helfen, wenn sie das Handeln der neuen Bundesregierung leitet. Sie schafft das Naheliegende, nämlich einen Schub für die Wirtschaft. Und sie schafft das vielleicht Unerwartete: Klimasorgen zu mildern und eine grüne Transformation zu bewältigen, ohne Menschen auf diesem Weg zurückzulassen. Sie kann Lücken bei der Digitalen Teilhabe schließen helfen – und so auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.


1Quelle: https://digital-competitiveness.eu/wp-content/uploads/Digital_Riser_Report-2021.pdf, p.19

2Quelle: https://www.acatech.de/publikation/technik-radar-2020/

3Quelle: https://www.pnn.de/potsdam/potsdam-wird-smart-city-buergerbefragung-per-app-klimadaten-aus-dem-kiez/27429044.html