Barrierefreiheit ist kein “Nice to have”
Der ungehinderte Zugang zu Information und Kommunikation, und das schließt das Web ausdrücklich mit ein, ist ein grundlegendes Menschenrecht. Doch trotz aller Bekenntnisse zur Bedeutung von inklusiven Angeboten sind viele Webseiten davon noch weit entfernt. Aktuell sind drei Viertel der meistbesuchten deutschen Webshops nicht barrierefrei. Das zeigt ein neuer und in dieser Form noch nicht durchgeführter Test von Aktion Mensch, BITV-Consult, Google und der Stiftung Pfennigparade unter fachlicher Beratung durch die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT-Bund). Betroffen von mangelhaftem Zugang zu essentiellen Internetdiensten sind nicht nur die rund acht Millionen Menschen mit Behinderung, sondern auch weitere fünf Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung sowie viele ältere Menschen oder solche, die nicht gut lesen und schreiben können oder deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Als Faustformel gilt: Barrierefreiheit im Internet ist für zehn Prozent der Bevölkerung unerlässlich, für mindestens 30 Prozent notwendig und für 100 Prozent hilfreich. Umgekehrt heißt das: wer seine Webangebote nicht barrierefrei gestaltet, schließt eine große Kundengruppe aus.
Menschen mit Beeinträchtigung werden durch fehlende digitale Barrierefreiheit von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen - obwohl sie das Internet überdurchschnittlich intensiv nutzen und eine besonders relevante Gruppe von Online-Kund*innen sind. Studien der Aktion Mensch zeigen: Menschen mit Beeinträchtigung nutzen insbesondere Online-Shops im Durchschnitt häufiger als Menschen ohne Beeinträchtigung.
Mangelnde Tastaturbedienbarkeit ist die häufigste Barriere
Unsere Untersuchung zeigt: 61 von 78 getesteten Webseiten sind nicht allein über die Tastatur bedienbar. Dabei stellt die Tastaturbedienbarkeit insbesondere für Menschen mit Sehbehinderung eine Grundvoraussetzung für barrierefreie Nutzung dar. Eines der größten Probleme ist etwa, dass die Webseiten nicht über einen sichtbaren Tastaturfokus verfügen.
Zudem stießen Tester*innen mit Sehbehinderung auf vielen der untersuchten Webseiten auf die Herausforderung fehlender Kontrastfarbe: Heben sich Farben der Texte und Hintergründe nicht stark genug voneinander ab, ist es schwierig bis unmöglich für sie, diese Texte zu lesen. Eine weitere Barriere stellen eingeblendete Inhalte wie Banner dar, die Tester*innen mit Sehbehinderung nicht schließen konnten. Hier findet Ihr den ganzen Testbericht.
Lerntastatur
Immerhin zwölf Webshops ermöglichen barrierefreie Navigation
Alle 17 tastaturbedienbaren Seiten erfüllen das Kriterium eindeutiger Beschriftungen (Labels) beim Ausfüllen von Formularen. Immerhin 15 hiervon bieten bereits das einfache Ändern der Textgröße (“Pinch-to-Zoom“) an, um so eine bessere Lesbarkeit der Webseite zu erreichen. Bei zwölf von 17 Webseiten sind zudem interaktive Bedienelemente (“Hamburger-Menüs”) im Bestellprozess korrekt beschriftet, ihr jeweiliger Status (etwa die vorausgewählte Größte bei Kleidung) wird korrekt ausgelesen und die Nutzer*innen können die Auswahl problemlos verändern. Hier war es den Tester*innen ebenso möglich, erfolgreich durch den gesamten Kaufprozess zu navigieren.
Best-Practise-Beispiele und Handlungsempfehlungen
Die kritische Betrachtung der aktuellen Lage ist das eine. Wir möchten mit unserem Testbericht aber auch Tipps geben, wie man mit einfachen Maßnahmen schnell Fortschritte in Sachen Barrierefreiheit machen kann. Dazu zählt ein erster Test der Webseite mit einem Tool wie Wave. So bekommt Ihr einen ersten Überblick über vorhandene Barrieren einer Webseite. Außerdem solltet Ihr bei der Arbeit an der Lösung am besten Menschen mit Beeinträchtigung einbinden und nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Zum Einstieg empfehle ich das neue Sozial- und Marktforschungspanel von Aktion Mensch und Ipsos.
Logo der Teilhabe Community von Ipsos und Aktion Mensch
Online-Handel muss in zwei Jahren barrierefrei sein
In genau zwei Jahren, am 28. Juni 2025, tritt die EU-Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit (European Accessibility Act – EAA) in Kraft. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, den gesamten Online-Handel für Verbraucher*innen barrierefrei zu gestalten. In Deutschland wird die Richtlinie durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) umgesetzt. Aus diesem ergibt sich eine Verpflichtung privater Unternehmen, ihre Produkte und Dienstleistungen auf digitale Barrierefreiheit zu prüfen und an die gesetzlichen Vorgaben anzupassen. Dies gilt für Produkthersteller jeglicher Unternehmensgröße. Ausnahmen gelten nur für kleine Dienstleister mit weniger als zehn Beschäftigten und einem Umsatz unter zwei Millionen Euro. Aber schon heute müssen sich Unternehmen fragen, warum sie Barrierefreiheit im Netz nicht umsetzen, wenn sie damit große Käufergruppen ausschließen und es in anderen Ländern, wie beispielsweise den USA, längst selbstverständlich ist.
Mit unserem gemeinsamen Testbericht möchten wir alle, aber vor allem Unternehmen dazu anregen, die noch bestehenden digitalen Barrieren zu beseitigen und so einen Beitrag für eine inklusive Gesellschaft zu leisten. Barrierefreiheit ist kein “nice to have”, sondern ein “must have”, nicht nur im Internet.