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The Keyword Deutschland

Wer gesellschaftliche Polarisierung verstehen will, darf nicht nur Filterblasen verantwortlich machen



Hinweis: Eine ähnliche Version dieses Textes erschien am 25. September 2022 in ad hoc international, dem Magazin des Netzwerks für internationale Aufgaben e.V. (nefia).

Wenige Begriffe haben unseren Blick auf das Internet und unseren Medienkonsum in den vergangenen Jahren so geprägt wie die ominöse „Filterblase“. Geprägt von dem Internetaktivisten und Entrepreneur Eli Pariser ist das Konzept ein Synonym geworden für das, was viele als größte Gefahr des Internets sehen: parallele Informationswelten und eine immer tiefer werdende gesellschaftliche Kluft. Dass uns unsichtbare Algorithmen in verschiedene Realitäten einsortieren, so die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, sei verantwortlich für den Wahlsieg von Donald Trump, den Ausgang der Brexit-Abstimmung und die gesellschaftlichen Verwerfungen rund um die COVID-Impfung.

Der Kern von Parisers Argument besagt, dass algorithmische Personalisierungen beeinflussen und bestimmen, welche Informationen eine Person sieht. Laut Pariser soll dieser Mechanismus dazu führen, dass Menschen nur noch Inhalte angezeigt bekommen, die ihre eigene Weltsicht bestätigen, und dass sie sich so in immer stärker isolierten und polarisierten Informationsökosystemen bewegen. Menschen würden abgeschnitten von neuen Themen, Gedankenanstößen und Informationen, und dadurch anfällig für Propaganda, Fehlinformationen und Manipulation. Pariser untersuchte anfänglich vor allem Suchmaschinen und prägte damit das Bild, nach dem jede/r Nutzer*in in einer ganz eigenen Informationsblase existiert.

Das Argument scheint so simpel wie intuitiv: Von den Posts, die wir in unseren Social Media Newsfeeds angezeigt bekommen, zu den Vorschlägen, die uns von Video- oder Musik-Streaming Plattformen gemacht werden – vielerorts werden Algorithmen eingesetzt, um Nutzer:innen auf Inhalte hinzuweisen, die für sie relevant und interessant sein können. Aber gibt es deshalb Blasen, die uns von der Außenwelt abschneiden und die Gesellschaft spalten?

Tatsächlich ist die Antwort auf die Frage, ob es Filterblasen denn nun gibt oder nicht, alles andere als eindeutig. Pariser liefert keine klare Definition des Phänomens und zieht Anekdoten heran, um den Effekt der mutmaßlichen Filterblase zu veranschaulichen. Das Konzept wird in verschiedenen akademischen Disziplinen sehr unterschiedlich aufgefasst, und die empirische Evidenz ist bestenfalls dürftig. Metastudien von Axel Bruns (2019), Jan Philipp Rau und Sebastian Stier (2019), Tobias D. Krafft et al (2017) oder der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (2021) kommen zum Schluss, dass das Konzept der Filterblase bzw. Echokammer empirisch nicht belegt werden kann — im starken Kontrast zur zentralen Rolle der Begriffe in der gesellschaftlichen und politischen Debatte.

Tatsächlich deutet eine Vielzahl von Studien darauf hin, dass Menschen, die ihre Nachrichten online bzw. über soziale Netzwerke beziehen, weniger anfällig für Polarisierung sind als Personen, die sich nicht online informieren (z.B. Boxell et al, 2017). Das würde erstmal auf größere Diversität, mehr Input, weniger Abschottung hindeuten. Wenn jetzt alle diese Quellen etwas Ähnliches sagen, ist die Frage, ob dies die Algorithmen so steuern, oder ob es an der bewussten Entscheidung der Nutzer:innen liegt — weil sie sich online mit Menschen verbinden, die die eigene Haltung teilen oder Medieninhalte verbreiten, die den eigenen Standpunkt bestätigen. Dieses Phänomen – die Tendenz von Menschen, mit Personen in Kontakt zu treten, die die eigenen Meinungen teilen, auch Homophilie genannt – lässt sich in allen Kommunikationsräumen beobachten, online wie offline (z.B. Batorski & Grzywińska, 2018).

Damit kommen wir zur eigentlichen Crux der Debatte um den Einfluss von Filterblasen auf unsere Demokratien: Nur weil ein Problem online sichtbar wird, heißt das nicht, dass es online entstanden ist. Konzepte wie „Filterblase“ und „Echokammer“ haben eine starke deterministische Konnotation; Technik tue hier etwas mit Menschen, ohne dass diese darauf einen Einfluss hätten. Das Gegenteil ist aber der Fall: Nutzer:innen von Online-Plattformen treffen aktive Entscheidungen, suchen sich aus, was sie mit wem teilen, und gehen oft bewusst auf Gruppen zu, mit denen sie sympathisieren oder denen sie sich zugehörig fühlen. Die algorithmische Sortierung von Newsfeeds oder vorgeschlagene Inhalte sind darum nur ein Aspekt des Informationskonsums im Internet, und nicht das ganze Bild (Bruhns, 2019).

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wir uns mit unseren eigenen Vorurteilen, Überzeugungen und Gewohnheiten beschäftigen müssen, wenn wir der Polarisierung etwas entgegensetzen möchten. Dass gesellschaftliche Spannungen und Spaltungstendenzen existieren, ist unbestritten. Doch die Technik alleine ist nicht schuld und auch nicht die Lösung. Es führt kein Weg daran vorbei, uns mit den gelebten Erfahrungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen auseinanderzusetzen.

So gelegen uns die Filterblase als Erklärung kommen mag, um den Zustand der diskursiven Räume unserer Demokratien zu erklären, so sehr verstellt sie uns den Blick auf die eigentlichen Treiber der gesellschaftlichen Polarisierung. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer bringt es auf den Punkt: „Ungleichheiten zerstören Gesellschaften“. Wir brauchen Lösungsansätze, die sowohl die digitale als auch die analoge, gesamtgesellschaftliche Dimension mitdenken – wachsende Ungleichheit, abgehängte Bevölkerungsgruppen, ein immer rauerer Ton in politischen Debatten.

Ob sich manipulative Narrative durchsetzen und Menschen gegen Desinformation gewappnet sind, ist letztendlich eine gesamtgesellschaftliche Frage. So verlockend es auch sein mag, sich in der Problemanalyse auf die so schwer nachweisbare „Filterblase“ zu beschränken: Technologie ist zwar nicht neutral, aber auch nicht inhärent problematisch. Die Filterblasen zu beseitigen ist darum auch keine Wunderwaffe, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu retten und sich der Polarisierung entgegenzustemmen. Hier sind wir vielmehr als Gesellschaft gefordert, um mediale Vielfalt zu sichern und die Medienkompetenz insgesamt zu verbessern.