„Ich musste mir den Respekt erst erarbeiten“
Moin Jannika! Was ist dein typisches Morgenritual?
Moin ihr beiden! Ich stehe morgens tatsächlich gerne früh auf und wecke als erstes meine zwei Kinder – Familie hat am Morgen immer Priorität. Ich darf mit beiden noch eine Runde kuscheln – unsere Zwillinge sind zehn Jahre alt – das genieße ich immer sehr. Wir frühstücken dann gemeinsam, versuchen, rechtzeitig fertig zu werden – und meine Frau und ich achten dabei auch immer darauf, dass wir dabei nichts Falsches sagen, denn unsere Töchter sind zuweilen kleine Morgenmuffel ;-). Danach bringe ich die Kinder in die Schule und dann geht’s direkt zur Arbeit. Entweder zu einem Kundentermin, ins Büro oder zurück nach Hause ins Home Office.
Du arbeitest seit bald 14 Jahren bei Google. Was hat die Anfangszeit 2008 für dich damals so besonders gemacht und wie hat sich das Unternehmen seitdem verändert?
Damals hat mich sehr begeistert: die tollen Leute, die Unternehmenskultur und die Tatsache, dass wir schon 2008 bei Google an der digitalen Transformation maßgeblich mitgewirkt haben. Mittlerweile bieten wir eine Vielzahl an neuen Produkten – sowohl für unsere Nutzer:innen als auch Kunden und Partner. Googles Kernwerte sind gleich geblieben – was mich in den letzten Jahren besonders fasziniert, ist die Dynamik, mit welcher wir hier vor allem in Hamburg bei Google gewachsen sind. Inzwischen arbeiten hier über 500 Kolleg:innen am Standort. Wir haben auch wesentlich mehr Stockwerke als noch vor 14 Jahren – da verlaufen sich die neuen Mitarbeiter:innen, die „Noogler“ mal gerne.
Wie bist du damals bei Google gelandet?
Ein lieber und enger Freund von mir arbeitete 2008 schon bei Google und hat mir immer wieder begeistert von seiner Arbeit und seinem Team erzählt. In dem Jahr habe ich meine Promotion in der Amerikanistik abgeschlossen. Hierbei habe ich mich mit der Intertextualität zwischen den Werken des Transzendetalisten Henry Thoreau, der im 19. Jahrhundert lebte und den Gedichten des Komponisten John Cage, der im 20. Jahrhundert lebte, befasst. Beide haben sich u. a. stark damit beschäftigt, im „Ordinary“ das „Extraordinary“ zu sehen, z. B. in der (musikalischen) Schönheit von Alltagsgeräuschen oder der Natur. Obwohl ich also aus einem komplett anderen Feld kam, war ich danach fest entschlossen, in die Wirtschaft zu gehen. Google war damals schon eines der wenigen großen Unternehmen (neben den großen Unternehmensberatungen), die agnostisch in Bezug auf den akademischen Hintergrund eingestellt haben – das war für mich eine große Chance und die habe ich dann auch ergriffen. Gestartet habe ich bei Google dann im Retail-Team unseres Vertriebszweiges als Account-Strategin. Ich habe also Werbekunden aus dem Handel dabei geholfen, ihre Werbetexte zu schreiben, ihre Kampagnen zu optimieren und Wachstumspotenziale zu identifizieren.
Mittlerweile bist du Managing Director Retail unseres Vertriebsteams in Deutschland und leitest ein Team von mehr als 60 Kolleginnen und Kollegen. Wie können wir uns deine Arbeit vorstellen?
Ich begleite Handelsunternehmen in Deutschland in ihrer digitalen Transformation. Gemeinsam mit meinen Kolleg:innen in unserem Team spreche ich mit Händlern aus verschiedenen Bereichen (z. B. Mode, Lebensmittel, Elektronik) darüber, wie sie Google-Produkte nutzen können, um ihre Unternehmensziele zu erreichen. Zusätzlich setzen wir aber auch mit Industrieverbänden – wie dem HDE – Initiativen auf, um den Handel in Deutschland zu stärken, vor allem durch die Vermittlung digitaler Kompetenzen und die Bereitstellung von Tools, die ihnen helfen, ihr Geschäft digital sichtbar(er) zu machen.
Und zu guter Letzt ist mir das Themengebiet „Diversity, Equity & Inclusion“ eine Herzensangelegenheit: Hierbei stelle ich mir die Fragen: „Wie können wir sicherstellen, dass unsere Produkte für verschiedenste Menschen und Unternehmen gleichermaßen hilfreich sind?“ und „Wie können wir dafür sorgen, dass sich alle Mitarbeitenden gleichermaßen integriert fühlen und sich einbringen können – unabhängig von ihrem soziodemographischen Hintergrund, ihrem Arbeitsstandort oder sonstiger Variablen?“ Damit verbringe ich ebenfalls viel Zeit und versuche, Veränderung aktiv mitzugestalten.
Das klingt nach einem hohen Pensum. Wie behältst du dabei den Überblick über die Vielzahl der Dinge, die in deinem Team passieren?
Ich bin ein großer Fan von To-Do-Listen und Ansätzen, die mir dabei helfen, Dinge zu priorisieren. Ich nutze z. B. sehr regelmäßig das „4D Framework“, in dem man alle Aufgaben in einer der vier Quadranten einsortiert: „Do, Delegate, Delay or Drop“. Das hilft sehr dabei, mich aufs Wesentliche zu fokussieren. Außerdem schreibe ich jeden Freitagabend eine To-Do-Liste für die kommende Woche, die ich dann in der Folgewoche abarbeite – und je nach Dingen, die unter der Woche anfallen – ergänze. Es ist ein tolles Gefühl, erledigte Dinge durchzustreichen. In Zeiten, in denen ich besonders viel zu tun habe, breche ich zuweilen meine Aufgaben in viele kleinere Dinge herunter. Dann kann ich schneller Dinge durchstreichen; das motiviert mich :-).
Woher ziehst du deine Motivation für deinen Job?
Ich halte mich an meine drei Fs – sie sind meine zentralen Werte: Familie, Freiheit und Fun. Bei Google habe ich das Glück, in meinem Job ein hohes Maß an Gestaltungs- und Entscheidungsfreiraum zu genießen. Das gefällt mir sehr. Außerdem macht mir die Arbeit unheimlich Spaß – mit unseren Kunden und Partnern sowie all meinen Kolleg:innen, das fühlt sich dann manchmal schon fast so an wie Familie :-). Gemeinsam erleben wir tolle Dinge – sei es bei Veranstaltungen mit Kunden, LGBTQI+ Aktivitäten wie der Parade zum CSD in Hamburg oder im Büro.
Statistisch gesehen muss in Deutschland, aber auch global noch viel geschehen, damit noch mehr Frauen Führungspositionen in Unternehmen bekleiden. Wo würdest du als erstes ansetzen?
Bisher habe ich ausschließlich unter männlichen Managern gearbeitet. Glücklicherweise haben sie mich als Frau und Teil der LGBTQI+ Community immer unterstützt. Einen ähnlichen Rückhalt erhalte ich von Kolleg:innen, die sich darüber bewusst sind, dass es manchmal schwierig ist, als Frau eine Führungsposition zu bekleiden.Der Handel ist eine von Männern dominierte Branche, daher hatte ich bereits unzählige Termine mit Vorständen und Geschäftsführungen von Handelsunternehmen, in denen ich die einzige Frau am Tisch war. Da tat es immer gut, jemanden an meiner Seite zu wissen, der mich stärkt. Gerade aus diesem Grund möchte ich die Art der Unterstützung, die ich erfahren habe, an andere marginalisierte Gruppen weitergeben. Und aus meiner Sicht muss diese Unterstützung überall passieren: in der Schule, beim Berufseinstieg, im Laufe der Karriere. Meine Vorschläge wären konkret: Mentoring- und Sponsoringprogramme oder aber dezidierte Trainingsangebote, die helfen, Kompetenzen aufzubauen, die bei Mitglieder:innen von marginalisierten Gruppen oft weniger ausgeprägt sind (z. B. die Fähigkeit, über eigene Erfolge zu sprechen, Hilfe einzufordern etc.).
Was rätst du Frauen, die wie du eine Führungsposition in einem Unternehmen übernehmen möchten?
Macht einfach! Traut euch! Versteckt euch nicht! Wir brauchen mehr weibliche Vorbilder, die zeigen, wie vielfältig Führung aussehen kann. Es muss sich etwas ändern: Wir brauchen mehr Frauen in Führungspositionen. Ich bin und bleibe zuversichtlich, dass wir irgendwann an einen Punkt gelangen, an dem wir Frauen noch mehr erreichen können. Und ich hoffe sehr, dass ich einmal an eine Frau berichten muss – eine weibliche Chefin? Ja, das wäre was.
Wie siehst du dich selbst als Vorbild? Welche Rolle möchtest du einnehmen?
Vorbild zu sein ist zuweilen anstrengend, denn man steht immer unter Beobachtung und muss durchweg bereit sein für Diskussionsrunden und Vorträge. Aber es ist auch sehr erfüllend, wenn dir bewusst wird, dass du jemanden inspiriert hast, sich etwas zu trauen und den nächsten Schritt zu gehen. So bekomme ich z. B. manchmal nach Vorträgen zurückgespielt, dass sich eine Zuhörerin danach getraut hat, gegenüber ihrem Chef mehr Unterstützung einzufordern oder sich sogar vor dem Vorgesetzten oder Kolleg:innen zu outen. Das berührt mich sehr.
Die US-Serie Mad Men strotzt bekanntermaßen vor längst überholten Klischees in der Werbeindustrie. Hand aufs Herz: Erlebst du solche Klischee-Situationen auch noch?
Das ist in der Vergangenheit immer wieder passiert. Ich habe erlebt, wie (männliche) Geschäftspartner mir ihre Fluginformationen zum Ausdrucken des Boarding Passes gegeben haben – während sie mit meinen männlichen Kollegen über das Geschäft reden wollten. Ich wurde bei Terminen belächelt, weil ich Geisteswissenschaften studiert habe. In meiner Gegenwart wurden sexistische Witze erzählt. Und ich hatte immer wieder das Gefühl, dass ich mir den Respekt der Geschäftspartner erst erarbeiten musste, während männliche Kollegen ihn sofort erhalten haben. Glücklicherweise hat sich in den vergangenen Jahren ein großes Bewusstsein für Diversity, Equity & Inclusion entwickelt, sodass solche Dinge viel weniger passieren. Was mir aber nach wie vor auffällt: Oft denken Menschen, dass in Sachen Gleichberechtigung alles erreicht sei: Frauen sind erfolgreich, das „Pay Gap“ – also die ungleiche Bezahlung – schmilzt, es gibt die Ehe für alle. Es sei doch alles erreicht… Aber so einfach ist es aber nicht: Selbst in liberalen Umfeldern wie der Stadt Hamburg oder auch bei Google gibt es nach wie vor Vorfälle, in denen sich jemand aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe, der Sexualität oder anderer Dinge nicht wohlfühlt.
Heute am 26. April ist Lesbian Visibility Day. Du bist mit einer Frau verheiratet, ihr habt zwei gemeinsame Töchter. Was bedeutet dieser „Awareness“-Tag für dich?
Seit der Geburt unserer Zwillinge vor bald elf Jahren haben wir Angst vor dem Tag, an dem unsere Töchter aufgrund unserer Familienkonstellation ausgegrenzt werden. An dem sie sich vielleicht sogar für uns schämen – weil sie eine Mama und eine Mami haben. Bisher ist dieser Tag glücklicherweise noch nicht gekommen: weder im Kindergarten, noch in der Grund- oder jetzt der weiterführenden Schule. Meiner Meinung nach, ist es Tagen wie diesem, dem Lesbian Visibility Day, zu verdanken, dass mit Homosexualität offener und ehrlicher umgegangen wird als vor ein paar Jahren. Andere Geschlechteridentitäten, Lebensmodelle und Familienkonstellationen werden sichtbarer und sukzessive akzeptierter. Aber sollte der Tag kommen, an dem unsere Kinder Ausgrenzung und Mobbing erfahren – haben wir uns vorgenommen, erstmal durchzuatmen, ruhig zu bleiben und dann mit allen Beteiligten dazu zu sprechen. Es ist beruhigend zu wissen, dass wir auf viele Menschen und Einrichtungen zurückgreifen könnten, die uns unterstützen würden: unsere Familie, die Schulleitung, Verbände wie den LSVD, der hierzu Beratungen anbietet.
Was bedeutet es, sich in einem Business-Umfeld outen zu „müssen“? Was müsste sich deiner Meinung nach ändern, damit nicht immer von heteronormativen Standards ausgegangen wird?
Oh, das ist ein ganz schwieriges Thema. Ich komme oft mit sehr tradierten Unternehmen in Kontakt. Ich habe es immer vermieden, über meine Sexualität und meine Familie zu sprechen – weil ich es losgelöst von meiner Homosexualität für unangebracht halte, aber auch weil ich mich aufgrund meiner Homosexualität oft unwohl dabei gefühlt habe. Vor zwei Jahren hat sich das aber geändert: Ich wurde unter die ersten fünf Plätze der Top 100 Out Executives in Deutschland gewählt. Die Listen wurden digital geteilt und auf einmal wussten es alle: meine Geschäftspartner, meine alten Schulkamerad:innen und viele mehr. Jede:r, die oder der mein LinkedIn-Profil besucht, sieht es. Das ist für mich sehr befreiend!
Inwieweit unterstützt sich so ein Business Netzwerk von öffentlich geouteten Führungspersonen gegenseitig?
Wir unterstützen z. B. Veranstaltungen in jeweils anderen Unternehmen. Manchmal hilft es, mehr Aufmerksamkeit für ein Thema zu bekommen, wenn es von jemandem Externen validiert wird. Wir tauschen uns auch darüber aus, was wir im eigenen Unternehmen machen und geben uns so gegenseitig Ideen. Glücklicherweise gibt es Verbände wie Prout at Work, die diesen Austausch unterstützen und uns helfen, deutschlandweit Aktionen zu machen. Zum heutigen Lesbian Visibility Day gibt es etwa eine Social Media-Aktion.
Du engagierst dich neben deinem Hauptjob sehr für die LGBTQI+ Community und bist Teil des PRIDE@Google-Netzwerks als auch der eben angesprochenen Prout at Work-Stiftung. Was genau passiert bei beiden Initiativen und was ist deine Rolle?
Ich bin interne Sponsorin des PRIDE@Google-Netzwerks in Deutschland – das bedeutet, dass ich die Mitglieder:innen darin, wichtige Themen innerhalb des Unternehmens anzubringen, auf Defizite aufmerksam zu machen, Veranstaltungen zu organisieren und mit anderen Netzwerken und Einrichtungen im LGBTQI+ Umfeld in Austausch zu treten.
Zudem haben wir bei Google in Deutschland eine PROUT EMPLOYER-Zertifizierung durch Prout at Work erhalten – konkret heißt das, dass wir Stiftungsprojekte unterstützen und so mit unserer Arbeit auch Menschen außerhalb Googles erreichen.
Was wünschst du dir von Allys, also Verbündeten der LGBTQI+ Community?
Steht auf und seid laut, wenn ihr Zeuge von Diskriminierungen werdet oder beobachtet, dass sich ein Mitglied der LGBTQI+ Community unwohl fühlt. Denn: Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man als betroffene Person zu gekränkt oder im Moment gelähmt ist, um selbst etwas zu sagen. Besonders wichtig finde ich es, genau das auch bei vermeintlich „kleinen“ Dingen zu tun: Wenn beim Fußball ein Spieler einen schlechten Tag hat und seine Leistung als „schwul“ betitelt wird, gerade dann, wenn Homosexualität in der Schule nicht thematisiert wird – das sind die Momente, in den wir Allys brauchen und sie uns zur Seite stehen können.
Du bist echte Hamburgerin. Was ist dein Top-Geheimtipp – was muss man gemeinsam mit der Familie in der Hansestadt unbedingt gesehen oder erlebt haben?
Bei uns gerade hoch im Kurs: die Goblinstadt in Wandsbek. Dort lösen wir als Magier, Heiler und Schlitzohr Aufträge und nehmen zuweilen den Kampf gegen Monster auf. Wirklich sehr spannend!
Danke dir für das offene Gespräch, Jannika.
Du hast Lust bei Google zu arbeiten? Dann schau mal unter careers.google.com/jobs/ vorbei.