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#9 Wie es zu einem Start-up von Straßenkindern kam

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Ein x-beliebiger Tag in Berlin. 11.00 Uhr im Stadtteil Reinickendorf. Jörg Richert, Gründer NGO KARUNA für Kinder und Jugendliche in Not, hat ein Teamfrühstück mit Jugendlichen einberufen, die mit ihrer eigens gegründeten Initiative „Momo“ und mit Hilfe des Bundesfreiwilligendienstes um ihre Rechte kämpfen. Jugendliche, die vor kurzem noch in der Obdachlosigkeit lebten. 

So ein Arbeitsmeeting mit ehemaligen Straßenkindern vor 11.00 oder 12.00 Uhr anzusetzen, macht wenig Sinn, sagt Jörg. Schlafen und Essen, sind Dinge, die für diese Jugendlichen noch viel wichtiger sind als für andere Jugendliche in ihrem Alter. Auf beides nämlich mussten sie in ihrem Leben allzu oft verzichten. 

Um 12.00 war es dann soweit: Greace, Nino, Würfel, Nick und Angela waren versammelt und saßen in der gemütlichen Couchecke des großen hellen Raumes, im KARUNA Hilfezentrum beisammen. 

Ein Foto, das mehrere Jungendliche im Kreis sitzend auf dem Boden zeigt

Konferenz der Straßenkinder im Jahr 2015 (Quelle: Jörg Richert)

Dass hier Jugendliche sitzen, die von Zuhause geflohen sind, vor Schlägen, Alkoholismus oder Demütigung ihrer eigenen Eltern, das musste ich als Gast der Runde erst einmal verdauen. 

Jörg wollte von den Jugendlichen erfahren, was es braucht, wenn man fluchtartig sein Elternhaus verlässt, um sich in Sicherheit zu bringen und warum die Polizei oder das Jugendamt oft keine Hilfe ist. Bei dieser Frage schoss es förmlich aus der jungen Greace, damals 19 Jahre heraus: „Als ich von Zuhause weggelaufen war, übernachtete ich immer wieder vor Verzweiflung in Kellerräumen und träumte von einer Hilfenummer gegen Wohnungskummer. Ein Bett, ein Essen – das war mein Traum.“ 

Ein anderes Mädchen ergänzt: „Ja, ein Bett, das man nicht teilen muss.“

„Ein Bett, dass ich nicht teilen muss?“ Es dauerte einen Moment, bis ich diesen Halbsatz verstanden hatte. Dabei wurde mir schlecht und ich legte das Frühstück langsam auf den Teller zurück, ganz so, als würde ich es nicht verletzen wollen. 

„Telefonieren ist aber out, eine 24 Stunden-App wäre viel cooler“, kam es viel zu schnell aus der Runde, um dem Satz mit dem Bett und dem damit verbundenen Schmerz zu entkommen. 

Das war der Beginn von Mokli - der heutigen Hilfefinder-App für Menschen in Not. Heute hat die Hilfefinder-App ein Verzeichnis mit über 3.500 Hilfeeinrichtungen in ganz Deutschland. Mit wenigen Klicks findet man – neben sicheren Schlafplätzen – auch Ärzte, Beratung, Schulprojekte und vieles mehr. 

Mit dieser Idee gewann das „Start-up-Team Momo“ die Google Impact Challenge 2017 als Leuchtturmprojekt. Die Umsetzung gelang so ziemlich reibungslos, auch weil das KARUNA-Projektteam durch Google-Mitarbeiter:innen großartig und durchgängig beraten wurde. 

Ein Gruppenfoto mit drei Frauen und zwei Männern.

Jacquelline Fuller (Google.org) mit dem erfolgreichen Team von Karuna, der damaligen Sozialministerin Andrea Nahles sowie Jörg Richert bei der Google Impact Challenge (2016).

Was konnte getan werden, wie unterstützt werden? Google half, das Projekt zu strukturieren und vor allem auch die richtigen Partner zu gewinnen. Wichtigster Partner, der über Google zu Karuna kam, war Ubilabs, die durch ihre große Erfahrungen mit Maps die Basis für MOKLI erstellen konnten.

Ein Foto zeigt mehrere Menschen an einem Tisch sitzen und diskutieren

Workshop in den Büros von Google Hamburg mit den „Momos“ und Ubilabs

Aber gemeinsam wurde nicht nur viel gebrainstormt und Kontakte im Google-Universum hergestellt, sondern auch viel gelacht und nicht nur viel „Google zu Karuna”, sondern auch viel „Karuna zu Google“ gebracht. Allem voran ein Video-Dreh zur Erklärung von MOKLI im Berliner Google-Büro – der für drei Tage das Berliner Büro wesentlich bunter machte und Bande zwischen den Googlern und MOKLIs entstehen liess. 

Als die Mokli App dann nach einem Jahr Entwicklungszeit an den Start ging, wurde sie innerhalb von zehn Monaten 65.000 Mal aufgerufen, nachdem auf Großplakaten an den wichtigsten Bahnhöfen bundesweit für sie geworben wurde. Dann, aus den ersten Nutzungserfahrungen heraus, wurde ein S.O.S. Button implementiert, der sofortige Hilfe organisiert, wenn es gerade gar nicht mehr weiter geht. Über diese Funktion konnten im ersten Jahr zwei Mädchen durch Direktberatungen vor dem Selbstmord bewahrt werden.

Ein Videoclip ging viral, Zeitungen, das Fernsehen, selbst die Tagesthemen des Ersten Deutschen Fernsehens berichteten. Heute nutzen viele Einrichtungen die Mokli-App als Service, um ihre Hilfsangebote bekannter zu machen. 

Ein Video beschreibt die Mokli-App
10:25

Hier könnte die Geschichte von den ersten Stunden der Mokli App ein Ende finden, wenn es da nicht diesen unbändigen Tatendrang der Jugendlichen, ihrer Organisation und ihres Gründers gäbe, der mich bereits damals, bei meinem eher zufälligen Besuch tief beeindruckte. 

Das Team wollte es wissen und so ging es bereits ein Jahr später erneut an den Start. Die KARUNA-Momos bewarben sich mit ihrer Mokli-App als Plattform und einer Idee für eine neue Anwendung mit dem Namen „Verry hungry“ noch einmal bei der Impact Challenge von Google.

Und es machte tatsächlich noch einmal: „Bäääm“ und so standen die Jugendlichen, diesmal mit der Idee einer Kryptowährung, im Jahr 2018 erneut als eines der geförderten „Leuchtturm-Projekte“ am Mikrophon. Ein Bezahlsystem sollte entstehen, virtuelles Geld, mit der man von Smartphones zu Smartphones eine Spende übergeben kann. 

Und nun, seit Beginn des Jahres 2020, hat die Mokli App den KARUNI geboren. Ab sofort können Menschen in Not, zum Beispiel in Vertragsapotheken, Arzneimittel kaufen oder in den eigenen KARUNA-Cafés in Berlin ein Kaffee und etwas zu Essen. 

P.S. …es sollte mich wundern, wenn das nun alles gewesen sein sollte, schließlich habe ich doch erst letztens von zwei neuen Ideen für die Mokli-Web App gehört... 



Ein Porträtfoto von Karo Peters

Kommentar von Karo Peters, Mentorin auf Seiten Google Deutschland für Karuna:

Ich war seit 2016 auf Seiten Googles die begeisterte Mentorin für Karuna und habe dabei unglaublich viel gelernt – allem voran über die Arbeit mit und für Strassenkids, aber auch über Maps, YouTube für Kids und die Hilfsbereitschaft vieler Googler. Für mich war das Mentoring keine „Arbeit“ sondern eine Freude und Bereicherung. Es freut mich sehr, dass ich unter anderem den Kontakt zu den Programmierern von Ubilabs in Hamburg herstellen konnte, die sich auf Anhieb bestens mit den Jugendlichen verstanden haben. Worauf kommt es an, wenn man Hunger hat, wenn es regnet, wenn es Stress gibt? Dieses unmittelbare Feedback der Expertinnen und Experten von der Straße war ungeheuer wichtig, um die Mokli-App so gut wie möglich an reale Bedingungen anzupassen. Es war immer ein besonderes Erlebnis, wenn die ganze Truppe bei uns im Hamburger Google Büro zu den Workshops vorbei geschaut hat. Viele von ihnen sind mir ans Herz gewachsen und ich bin wirklich stolz zu sehen, was aus unserer Zusammenarbeit geworden ist. In der Weiterentwicklung der App habe ich Google-intern Kollegen aus den USA kennengelernt, die mich sogar über Kryptowährungen als potentielles Spendenmittel aufgeschlaut haben, eine Idee von Karuna, die ja auch noch umgesetzt wird, wenn wir alle den Euro nicht mehr aus der Tasche ziehen, sondern per Handy „rüberreichen