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20 Jahre Google Deutschland

#4 Die Bayerische Staatsbibliothek im Google Books Project

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Im Jahr 2005 schien der Untergang des Abendlandes nahe – zumindest in den Feuilletons einiger großer europäischer Tageszeitungen. Was war geschehen? Jean-Noel Jeanneney, damals Präsident der Bibliothèque nationale de France, hatte das von ihm als „Kampfschrift“ titulierte Buch „Googles Herausforderung“ publiziert. In diesem Werk polemisierte er heftig gegen das von Google im Jahr zuvor unter anderem mit mehreren großen US-Bibliotheken auf den Weg gebrachte „Google Books Project“. Mit diesem Projekt, das auf die Digitalisierung vieler Millionen Bücher aus Verlagen und Bibliotheken abzielt, sah Jeanneney die Gefahr einer nordamerikanischen Hegemonie für das schriftliche Kulturerbe heraufziehen. 

Eine Außenaufnahme der Bayerischen Staatsbibliothek

(c) BSB/H.-R. Schulz

Die Bayerische Staatsbibliothek (BSB), im Bereich der Handschriften, Inkunabeln und historischen Sammlungen selbst eine der fünf bedeutendsten Gedächtnisinstitutionen weltweit, sah das anders. Schließlich hatten wir bereits 1997 das Münchner Digitalisierungszentrum gegründet, das heute über die mit Abstand größte Scannerflotte aller deutschen Bibliotheken verfügt. Und die dort gesammelten Erfahrungen zeigten, dass der Einstieg in eine echte Massendigitalisierung unserer Sammlungen aufwandsseitig nur in Form einer Public Private Partnership gelingen konnte. 

Die im Sommer 2005 aufgenommenen Verhandlungen mit Google standen vor durchaus spannenden Herausforderungen, die sich vor allem aus der Rolle der BSB als zentraler Archiv- und Landesbibliothek des Freistaats ergaben. Die BSB ist keine Campusbibliothek, sondern grundsätzlich für „alle“ zugänglich, und mit einem BSB-Nutzerausweis kann man von überall her und fast uneingeschränkt auf alle Informationsressourcen des Hauses zugreifen. Hierfür gab es keinerlei vertragliche Blaupause, waren in den USA doch ausschließlich Campus-Libraries in die Digitalisierungspartnerschaft mit Google eingestiegen. Da die geplante Kooperation juristisch nicht anderes als eine Dienstleistungskonzession ist, war sie zudem europaweit auszuschreiben – eine ebenfalls nicht geringe Hürde. 

Am 06. März 2007 war es dann endlich soweit: die BSB konnte als erste kontinentaleuropäische Bibliothek den Einstieg in das Google Books Project zur Digitalisierung ihres gesamten urheberrechtsfreien Bestandes vom 17. bis 19. Jahrhundert bekanntgeben. Als ich den Vertrag dem seinerzeitigen Bayerischen Wissenschaftsminister zur Unterzeichnung vorlegte, gab er mir mit auf den Weg: „Ich hoffe, Ihr macht das Richtige!“, und ich habe geantwortet: „Wir haben nicht den leisesten Zweifel“. Auf der Pressekonferenz zur Vertragsunterzeichnung stand dann eine, aus BSB-Sicht eher merkwürdige Frage im Mittelpunkt: „Fliegen Eure wertvollen Bücher jetzt nach Mountain View, und kommen sie von da auch wirklich wieder zurück?“ Auch hier konnten wir beruhigen: Kein Buch verlässt die Grenzen des Freistaats, Googles Scan-Zentrum steht in Bayern. 

Ein Gruppenbild und eine Aufnahme des Raumes bei der Pressekonferenz

Historische Bilder von der Pressekonferenz 2007: Thomas Goppel, Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Bayern (links); Jens Redmer, Google (Mitte); Rolf-Eberhard Griebel, damaliger Direktor der Bayerischen Staatsbibliothek (rechts).

Seit diesem durchaus denkwürdigen Tag sind mehr als 14 Jahre vergangen. Zur Frage „Wo stehen wir heute?“ sollte man schlicht die Zahlen sprechen lassen. Mit Stand März 2021 hat Google für die BSB 1.182.638 Millionen Bände digitalisiert, davon 916.442 in Farbe. Ein kontinuierlich wachsender Teil davon wird durch Google zudem per Optical Character Reading (OCR) erschlossen. Google digitalisiert immer ganze Bände, die in sehr vielen Fällen aus mehreren Titeln und Ausgaben bestehen. Legt man diese für den Nutzer und die Katalogisierung entscheidende Zahl zugrunde, hat Google für die BSB 2.425.184 Digitalisate produziert. Das BSB-eigene Digitalisierungszentrum kann sich damit ganz auf die konservatorisch enorm anspruchsvolle Digitalisierung von Handschriften, Inkunabeln und Drucken primär des 16. Jahrhunderts konzentrieren. Hier wurden bis heute 250.693 Werke digitalisiert. Sieht man auf die Gesamtzahl der von Google und von der BSB erstellten Digitalisate von 2.675.877, so ist dies der größte digitale Datenbestand aller deutschen Kultureinrichtungen. Alle Digitalisate stehen kostenfrei weltweit zur nicht-kommerziellen Nutzung zur Verfügung – ein Ergebnis, dass ohne das Google Books Project in dieser Frist niemals erreicht worden wäre.

Zwei Beispiele aus dem digitalen Archiv der BSB: Die Märchen aus “Tausend und eine Nacht” sowie „Der Löwe“ ‒ Illustration aus „Die kleine Menagerie ‒ Schaulust für das zarte Jugendalter in Abbildungen der merkwürdigsten wilden Säugethiere“ (1854)

Zwei Beispiele aus dem digitalen Archiv der BSB: Die Märchen aus „Tausend und eine Nacht“ sowie „Der Löwe“ ‒ Illustration aus „Die kleine Menagerie ‒ Schaulust für das zarte Jugendalter in Abbildungen der merkwürdigsten wilden Säugethiere“ (1854)

Und die Erfolgsgeschichte geht weiter. Im Jahr 2019 hat Google nach sorgfältiger urheberrechtlicher Prüfung festgelegt, dass Bücher, die vor mehr als 125 Jahren publiziert wurden, im Books Project gescannt werden können; zuvor lag dieser cutoff-date bei 140 Jahren. Allein für das so hinzugewonnene Zeitfenster sind nun 250.000 weitere Bände aus BSB-Bestand digitalisierbar. Hinzu kommen rund 17.000 zusätzliche Bände jährlich aufgrund der kontinuierlich voranrückenden Moving Wall. Noch wichtiger ist die Ausdehnung des Projekts auf die der BSB nachgeordneten zehn regionalen Staatlichen Bibliotheken mit ihren bedeutenden historischen Sammlungen. Hier konnten in den zurückliegenden fünf Jahren 180.000 Bände digitalisiert werden, weitere 110.000 sind in Vorbereitung. Klammheimlich sind damit die Regionalbibliotheken in Augsburg und Regensburg in den illustren Kreis der zehn deutschen Bibliotheken mit den größten digitalen Datenbeständen aufgerückt. Durchaus stolz sind wir auch darauf, dass der 2007 ausgehandelte Vertrag in den Folgejahren zum Vorbild für weitere Verträge Googles mit bedeutenden europäischen Bibliotheken wurde, unter anderem der Österreichischen Nationalbibliothek. 

Übrigens: die Lieblingsfrage aller Journalisten zum Projekt ist mittlerweile vollständig verstummt: Wie stehen Sie zu den auf manchen Digitalisaten zu sehenden Fingern der Scanoperateure? Kann sich ein so traditionsreiches und renommiertes Haus wie die Bayerische Staatsbibliothek derartiges wirklich leisten? Mit gefühlt unendlicher Langmut habe ich dann stets geantwortet: Ja, wir können und wir wollen es uns leisten, und zwar schlicht deshalb, weil diese „Spuren“ der Scanarbeit sukzessive verschwinden werden – nicht von Geisterhand, sondern durch das kontinuierliche softwaregesteuerte Optimieren und Reprozessieren der erzeugten Digitalisate durch Google.

Wie steht es nun um die Nachfrage nach diesem gewaltigen digitalen Datenbestand? Lohnt sich die Teilnahme der BSB am Google Books Project aus Sicht der Bibliotheksnutzer? Auch hier sprechen die Zahlen für sich: Allein 2019 wurden bezogen auf den gesamten digitalen Bestand der BSB in Bedienung von 2,26 Millionen Benutzer-Download-Aufträgen mehr als 140 Terabyte Daten prozessiert. 

Zudem „sitzt“ die BSB nicht auf ihren Daten, sondern stellt sie zur freien nicht-kommerziellen Nutzung in der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) und der EUROPEANA zur Verfügung. So kommen 23% der aus Deutschland stammenden Digitalisatnachweise der EUROPEANA aus der BSB, für die digitalisierten Texte des 16. bis 19. Jahrhunderts sind es rund 90% – zu ganz überwiegendem Anteil aus dem Google Books Project. Und schließlich geht es der BSB schon längst nicht mehr nur um die Bereitstellung von „Content“, sondern ebensosehr um seine Kontextualisierung vor allem im Umfeld der Digital Humanities, etwa in virtuellen Forschungsumgebungen, in denen sich Digitalisate mit Annotationen, Kommentaren und Transkriptionen verknüpfen und teilen lassen.

Rückblickend auf nunmehr 14 Jahre im Google Books Project läßt sich sagen „Wir würden alles wieder ganz genauso machen“, und vorblickend freuen wir uns auf das noch möglichst langjährige Commitment Googles auf dem Feld der Buchdigitalisierung.

Mehr von dem Projekt seht ihr in der digitalen Ausstellung mit Meilensteinen des Projektes auf Google Arts & Culture. 



Porträtfoto von Jens Redmer

Kommentar von Jens Redmer, damaliger Leiter des Projekts für Google in Europa:

Es war im März 2007, als wir zwei Lavalampen (damals noch angesagt) in die Regale des Grossen Sitzungssaals der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) schmuggelten. Einen Tag später gaben wir auf einer Pressekonferenz unsere Partnerschaft mit der BSB  nach fast zwei Jahren Verhandlungen  bekannt: weit mehr als eine Million urheberrechtsfreier Werke sollten ab sofort digitalisiert werden. 

Das Buchsuche-Projekt hat mich als Leiter des Projekts für Europa auf meinem Weg als einer der frühen Googler in Deutschland über drei Jahre begleitet  und ist bis heute eines der spannendsten Kapitel geblieben. Kaum ein anderes Projekt kommt Googles Mission so nahe, das Wissen der Menschheit für alle und überall jederzeit verfügbar zu machen. Und zu keinem anderen Projekt habe ich so viele interne und externe Anekdoten erleben dürfen, von geheimen Räumen und Werken in den archivi segreti vaticano über die im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Räume der Bibliothek im Trinity College oder der Wiener Nationalbibliothek  bis hin zu den Erstwerken wie Rötkäppchen oder Dornröschen der Gebrüder Grimm, die im Rahmen des Projektes an der BSB digitalisiert wurden.

Als ich mit einigen Kollegen irgendwann im Jahr 2005 zum ersten Gespräch diese beeindruckende Treppe nach oben ging, war uns noch nicht bewusst, dass die folgenden Verhandlungen auch die Basis für die Digitalisierung der Werke vieler anderer Bibliothekspartner aus Europa sein würden. In der Außenstelle der BSB in Garching entstand eines der größten Digitalisierungszentren weltweit.

Manchmal werde ich sich als Vertreter eines Technologieunternehmens gefragt, ob ich mir beim Arbeiten an so vielen virtuellen Projekten der Digitalbranche nicht manchmal mehr greifbare Dinge wünsche. Ich entgegne dann gerne: Das Buchsuche-Projekt ist doch genau so etwas. Obwohl vielleicht virtuell aufgesetzt, hinterlässt es doch sehr tangible Spuren. Etwas, das bleibt: Das Wissen der Vergangenheit bewahren. Danke an Herrn Ceynowa und sein Team bei der BSB für über 14 Jahre Partnerschaft.