#3 Als die Zeugen sprechen lernten - das Gedächtnis der Nation
Es begann mit nicht mal hundert Zeilen. „Das Erbe der Deutschen“, war die Kolumne überschrieben, mit der ich im Sommer 2006 im „stern“ die Gründung eines Deutschen Geschichtsarchivs vorschlug, gefüllt mit Videoaufzeichnungen der Erinnerungen von Menschen, die Höhen und Tiefen der Geschichte seit dem Ersten Weltkrieg erlebt hatten. Herrscher und Beherrschte, Ausbeuter und Ausgebeutete, Treiber und Getriebene, Opfer und Täter, Revolutionäre und Büttel, Helden und Versager, Idealisten und Verirrte – oder einfach nur Mitgerissene, Ausgelieferte, Fortgespülte. „Zeitzeugen faszinieren. Sie tragen Geschichte in ihren Schicksalen“, schrieb ich. Und fragte: „Wer wagt die Initiative, wer trägt die Verantwortung, wer mobilisiert das Geld?“ Prof. Guido Knopp, Leiter der Zeitgeschichte-Redaktion des ZDF, las den „stern“ im Urlaub am Strand – und meldete sich anschließend in meinem Büro. Das ZDF hatte Ähnliches schon versucht, doch die Initiative war verdorrt, übrig blieb ein Bus mit Fernsehstudio zum Aufzeichnen von Zeitzeugen-Interviews. Er stand beim Sender auf dem Mainzer Lerchenberg und hatte nur noch Schrottwert.
Also taten Knopp und ich uns zusammen und begannen mit der mühsamen Suche nach Unterstützern und Geldgebern. Gut zwei Jahre klapperten wir die deutschen DAX-Konzerne ab, beknieten Kommunikatoren und Vorstände, schwankten zwischen Euphorie und Depression. Denn anfängliche Begeisterung schlug mitunter in peinliche Absagen oder gar harsche Abwendung um. VW war Feuer und Flamme vom „Gedächtnis der Nation“, wie wir das Projekt inzwischen nannten, nach dem Modell der Shoah Foundation des Hollywood-Regisseurs Steven Spielberg, der Überlebende des Holocaust zu ihren Erinnerungen befragen ließ. „Das ist genau das, was wir jetzt brauchen. Ein Vorhaben von nationaler Bedeutung“, hieß es in Wolfsburg, wo gerade ein peinlicher Skandal seine Spuren hinterlassen hatte. Man wollte sogar der einzige Autohersteller sein, der das „Gedächtnis“ trug, war also bereit, Daimler heraus zu kaufen. Doch dann, plötzlich, war niemand mehr in Wolfsburg erreichbar. In anderen Vorstandsetagen war deutlich zu spüren, dass man bei aller Bewunderung der Idee doch Angst davor hatte, wieder mit der eigenen NS-Geschichte konfrontiert zu werden.
Nicht alle ließen sich von dieser Furcht lähmen. Die Robert Bosch Stiftung und Daimler in Stuttgart standen von Anfang an fest zu uns, Bertelsmann und der „stern“-Verlag Gruner+Jahr kamen dazu. Das ZDF mit seinen Schätzen an Zeitzeugen-Interviews sowieso. Und, das war in Wahrheit das verlässliche Fundament: Google mit seiner Tochter YouTube, die unentgeltlich die gesamte Technik für das Internet-gestützte „Gedächtnis“ versprachen. Und gemeinsam mit dem Mainzer Institut für Medien-Gestaltung das Web-Design besorgten. Ein „Zeitstrahl“ führte durch die deutsche Geschichte, Kurzfilme aus den Studios des ZDF beleuchteten die wesentlichen Stationen, Zeitzeugen-Interviews schilderten persönliche Erinnerungen. Zwei Kanäle standen am Ende nebeneinander: Das „Gedächtnis der Nation“ mit den professionell bearbeiteten Interviews, zudem „Unsere Geschichte“ als Mitmach-Kanal für privat geführte Recherchen und Projekte von Schulklassen. Ohne Google, daran gibt es keinen Zweifel, wäre das Projekt gescheitert.
V.l.n.r.: Prof. Guido Knopp, Leiter der Zeitgeschichte-Redaktion des ZDF, Ralf Bremer, Pressesprecher Google Deutschland, und Hans-Ulrich Jörges, Publizist und Mitgründer “Gedächtnis der Nation”
Ende 2008 hatten wir es soweit beieinander, dass ich im „stern“ Vollzug melden konnte. „Gedächtnis der Nation“ war diesmal meine Kolumne überschrieben. Es solle niemandem gehören, sondern allen: den Deutschen. Doch es dauerte noch drei Jahre, bis das Projekt im Oktober 2011 wirklich an den Start gehen konnte. Die Technik musste aufgebaut werden, die Gremien waren zu bilden. Und es gab manchen Rückschlag. Eine schon verpflichtete Geschäftsführerin sprang wieder ab, ein Nachfolger war zu finden: Jörg von Bilavsky, der nun Stabilität gab. Bundespräsident Christian Wulff übernahm die Schirmherrschaft, nach ihm Joachim Gauck. Kulturstaatsminister Bernd Neumann wurde Vorsitzender des Kuratoriums. Marcel Reich-Ranicki, Hans-Dietrich Genscher, Egon Bahr, Lothar Späth und Heinrich-August Winkler gehörten zu jenen, die sich auf die eine oder andere Weise in die Pflicht nehmen ließen.
Im Oktober 2011 gaben Knopp und ich in Berlin schließlich den Start frei für das Projekt. Fünf Jahre hatten wir darum gerungen. Wir stellten den „Jahrhundertbus“ vor, der in Wahrheit ein Lastwagen von Daimler war – mit einem Fernsehstudio huckepack, in dem die Interviews mit den Zeitzeugen geführt wurden. Das Echo war enorm.
Von Berlin aus ging der „Jahrhundertbus“ auf seine erste Tour durch Deutschland. Viele erkannten ihn schon auf der Autobahn und grüßten im Vorüberfahren. Nach Berlin folgten Magdeburg, Hannover, Eisenach, Jena, Leipzig, Halle, Dresden, Bayreuth, Nürnberg, München, Fulda, Frankfurt am Main und schließlich Mainz, wo die „Ernte“ unterm Dach des ZDF verarbeitet wurde. Die Fischzüge nach Zeitzeugen verliefen immer nach dem gleichen Muster: Regionalzeitungen kündigten den „Jahrhundertbus“ an, berichteten, wann er wo genau stehen werde, und riefen Interessierte dazu auf, sich zur Vorbereitung telefonisch in Mainz zu melden. Im Gespräch mit den Anrufern klärten dann zeitgeschichtlich ausgebildete Redakteure, was die Zeugen zu erinnern wussten, um schließlich eine Auswahl unter ihnen zu treffen und Termine zu vereinbaren. Die Regionalblätter wiederum beobachteten und fotografierten dann, wie die einbestellten Zeitzeugen in das mobile Studio kletterten, auf einem Stuhl Platz nahmen und befragt wurden. Für manche, die Krieg, Vertreibung und Gewalt erlebt hatten, war es eine Entlastung von Seelenqualen. Und die Angehörigen von Widerstandskämpfern gegen die Nazi, die der Bus zu Hause besuchte, freuten sich über das Interesse an ihren Erinnerungen. Die Interviews wurden in Mainz geschnitten und in die von Google geprägte Architektur eingepflegt. Das funktionierte reibungslos.
v.l.n.r.: Philipp Schindler, Google, Prof. Guido Knopp, ZDF, Hans-Ulrich Jörges, Publizist und Mitgründer “Gedächtnis der Nation”, und Jörg von Bilavsky, Projektleiter "Gedächtnis der Nation", Historiker
Knopp und ich kämpften unterdessen für die langfristige Finanzierung. Es fanden sich aber keine weiteren Geldgeber – und die vorhandenen wurden nervös. Vier Jahre hatten sie Geld versprochen. Dann verabschiedete sich Bertelsmann. Daimler und die Bosch-Stiftung zeigten sich geduldig und verlängerten, doch ewig zahlen mochten oder durften auch sie nicht. Eine neue Lösung musste gefunden werden. Ich suchte sie in Berlin, unter dem Dach der Kulturpolitik. Im Deutschen Historischen Museum (DHM) gab es schon eine Station des „Gedächtnisses“, in der Besucher Zeitzeugen-Erinnerungen auf einem Computer-Bildschirm abrufen konnten. Ich wusste, dass es unter den vom Bund geführten Museen eine lebhafte Diskussion darüber gab, sich zu erneuern und zu modernisieren – unter anderem durch Zeitzeugen-Interviews. Direkte Gespräche mit dem DHM führten jedoch nicht zum Erfolg. Also nahm ich Kontakt auf mit Monika Grütters, der Staatsministerin für Kultur im Kanzleramt. Sie zeigte sich überzeugt – und umwerfend tatkräftig. Eine Konferenz in ihrem Büro vereinbarte, das „Gedächtnis der Nation“ ins Bonner „Haus der Geschichte“ einzubringen, wo es als Teil seines Online-Archivs die Zeitzeugen-Arbeit aller Museen des Bundes vorantreiben sollte. So geschah es auch. Hans Walter Hütter, Präsident des Hauses der Geschichte, wurde von Frau Grütters mächtig in Bewegung gesetzt und übernahm den Auftrag zur Zeitzeugenarbeit – nun mit Stefan Brauburger, der von Anfang an dabei gewesen war und nun Guido Knopp als Leiter der Zeitgeschichte-Redaktion des ZDF abgelöst hatte. Der Umbau war meine letzte Tat für das „Gedächtnis“. Monika Grütters empfahl ich dabei nachdrücklich einen zuverlässigen Partner auch für andere Kulturprojekte des Bundes: Google.
Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt im Zeitzeugenportal auf YouTube (Gedächtnis der Nation)
Über Hans-Ulrich Jörges:
Hans-Ulrich Jörges, 1951 in Bad Salzungen/Thüringen geboren, zählt zu den führenden politischen Journalisten Deutschlands. Er wurde bekannt durch seine wöchentliche Kolumne („Zwischenruf“) im „Stern“ und zahlreiche Auftritte in Talkshows. Die britische „Financial Times“ zählte ihn zu den einflussreichsten Kommentatoren der Welt. 2004 war er in Deutschland politischer Journalist des Jahres. Jörges kam über die Nachrichtenagentur Reuters und die „Süddeutsche Zeitung“ zum „Stern“, wo er 2007 Mitglied der Chefredaktion und Chefredakteur für Sonderaufgaben des Verlags Gruner+Jahr wurde. Das Magazin enthüllte unter seiner Leitung die Affäre um Verteidigungsminister Rudolf Scharping, die 2002 zu dessen Sturz führte. Jörges initiierte das Geschichtsportal „Gedächtnis der Nation“, die Europäische Charta für Pressefreiheit und das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit in Leipzig. Bis zu seinem Ausscheiden Ende Juli 2020 schrieb Jörges 960 Kolumnen für den „Stern“. Er lebt in Berlin.
Kommentar von Ralf Bremer, Pressesprecher Google Deutschland, der 2011 die Entwicklung des YouTube-Kanals für das “Gedächtnis der Nation” leitete:
Ich war erst wenige Monate bei Google, als ich im Jahr 2010 mit der Aufgabe betraut wurde, gemeinsam mit ZDF, Stern und weiteren Partnern das “Gedächtnis der Nation” aufzubauen. Mein Kollege Kay Oberbeck hatte die Idee mit Hans-Ulrich Jörges “ausgeheckt” und mich mit der Umsetzung betraut. Für uns war sehr schnell klar, dass für eine gigantische Datenbank mit Videos nur YouTube als Plattform in Frage kam. Wir arbeiteten bald in einem Team aus rund 15 Personen, mit Programmierer:innen, Designer:innen, Historiker:innen und natürlich den beiden “Vätern” des Projektes, Hans-Ulrich Jörges und Guido Knopp. Von Seiten YouTubes waren meine Kolleginnen Katrin Hülsmann und Thorsten Jöhnk über viele Monate mit dabei und eine unschätzbare Hilfe. Gemeinsam entwickelten wir einen YouTube-Kanal mit verschiedenen Funktionalitäten. Zum einen musste dieser in der Lage sein, die riesige Menge an vorhandenen Videos - im ersten Schritt rund 8.000 - zu verarbeiten. Zum zweiten bot der Kanal die Möglichkeit auch für neue Zeitzeugen, ihre Geschichte als Video auf die Plattform hochzuladen und so zum stetig wachsenden “Gedächtnis der Nation” beizutragen. Für mich als damaligen “Google-Anfänger” war es eine große Ehre und Freude, zu diesem großartigen Projekt beizutragen und dieses bis heute zu begleiten. Seit 2017 liegt das Zeitzeugenportal in der Obhut des Hauses der Geschichte in Bonn. Mehr dazu gibt es demnächst hier in der Serie “20 Jahre Google Deutschland”.